Navigation und Service

Nahmobilitätskonzept – Entwicklung und Umsetzung eines integrierten Mobilitätskonzepts für eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Kommune

Nahmobilitätskonzept Wrangelkiez
Projektzeitraum

1.11.2020 - 31.7.2023

Land

Berlin

Stand der Information

31.7.2023

In dem Forschungsvorhaben soll ein Nahmobilitätskonzept für ein hochverdichtetes städtisches Quartier (Wrangelkiez) in Berlin Kreuzberg unter Berücksichtigung politischer, administrativer und zivilgesellschaftlicher Ansprüche partizipativ entwickelt und umgesetzt werden.

Verkehrsgeschehen in der Falckensteinstraße

Ausgangssituation, Projektidee und -ziele

In dem Forschungsvorhaben soll die partizipative Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen für eine nachhaltige Ausrichtung des Verkehrs im Wrangelkiez, im Sinne der Mobilitätswende, wissenschaftlich begleitet werden. Auf Ebene des Quartiers wird dazu der planerische Ansatz der Nahmobilität verfolgt. Dieser zielt auf eine nachhaltige Mobilität durch eine verbesserte Erreichbarkeit für die aktive, nichtmotorisierte Fortbewegung im Zusammenspiel mit einer Aufwertung von Wege- und Aufenthaltsqualitäten im Nahraum. Die bestehenden Wechselbeziehungen bei der Nahmobilitätsförderung erfordern eine integrierte Planung, die weit über die verkehrliche Betrachtung von Mobilität hinaus soziale, ökologische, wirtschaftliche und stadträumliche Aspekte einbezieht.

Das gewählte Untersuchungsgebiet im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg weist eine hohe Bevölkerungs- und Bebauungsdichte auf. Es besteht eine, für Kreuzberg typische, kleinteilige Nutzungsmischung, die zusammen mit der heterogenen Sozialstruktur als „Kreuzberger Mischung“ bezeichnet wird. Über die Hälfte der Menschen besitzen eine Migrationsgeschichte, davon ein Drittel mit Bezug zur Türkei. Zusätzlich zu den hier wohnenden Menschen kommen Besuchende, Touristinnen und Touristen, die im Kiez arbeiten, oder die das große Angebot an Kultur, Gastronomie, Freizeit und Erholung lockt. Entsprechend der Popularität des Kiezes und der funktionalen und sozialen Heterogenität, weist das Gebiet eine hohe soziale Problemdichte auf. Die Menschen sind gleichzeitig von den Folgen einer Gentrifizierung im Wohn- und Gewerbesektor betroffen, während der öffentliche Raum durch Übernutzung, Partyfizierung oder Drogenkriminalität betroffen ist und der Eindruck von Verwahrlosung und Unsicherheit entsteht.

Trotz der bestehenden Regelungen als „verkehrsberuhigter Bereich“ und „Anlieger frei“, besteht großer Handlungsbedarf zur Anpassung der Verkehrsinfrastruktur. Platzprobleme bestehen v.a. durch den ruhenden MIV, Halte- und Ladevorgänge des Lieferverkehrs, ein hohes Fuß- und Radverkehrsaufkommen und die Übernutzung der Fußverkehrsflächen durch eine Vielzahl an Nutzungen.

Die Darstellung zeigt das Ergebnis der Flächengerechtigkeitsanalyse im Wrangelkieziez Ergebnis der Flächengerechtigkeitsanalyse im Wrangelkiez – Vergleich bestehender Flächenaufteilung mit nachhaltiger Idealverteilung
Ergebnis der Flächengerechtigkeitsanalyse im Wrangelkiez – Vergleich bestehender Flächenaufteilung mit nachhaltiger Idealverteilung

Der Stadtraum ist von stehenden und fahrenden Autos dominiert, wodurch u. a. die Aufenthaltsfunktion in den sensiblen verkehrsberuhigten Bereichen stark beeinträchtigt wird. Aufgrund der guten Nahversorgungslage, der guten stadträumlichen Anbindung, der guten ÖPNV-Erschließung, einer mehrheitlichen Nutzung des Umweltverbunds für Alltagswege und einer geringen Kfz-Besitzquote, liegen ideale Ausgangsbedingungen für die Nahmobilität vor.

Angesichts der umfassenden gesellschaftlichen Aufgabe der Nahmobilitätsförderung, sind die unterschiedlichen Perspektiven und Ansprüche von lokaler Zivilgesellschaft sowie kommunaler Politik und Verwaltung zu berücksichtigen. Für den hochverdichteten innerstädtischen Wrangelkiez soll die Entwicklung und Umsetzung eines entsprechenden integrierten Nahmobilitätskonzepts daher partizipativ erfolgen.

Eine besonders aktive und engagierte Zivilgesellschaft hat Tradition im Wrangelkiez. Durch verschiedene Initiativen und Vereine wurden in der Vergangenheit wichtige Beiträge zu einer menschengerechten Umgestaltung des Verkehrssystems geleistet. Angefangen von dem Engagement zur Einrichtung eines verkehrsberuhigten Bereichs in den 1980er-Jahren, über ein Konzept, das den Kfz-Durchgangsverkehr durch Modalfilter reduziert, bis zu einer Vision für einen autofreien Wrangelkiez zeigt die lokale Bevölkerung immer wieder Bedarfe und Lösungsansätze zur Anpassung von Verkehr und Mobilität auf (vgl. WrangelkiezRat; Initiative „Autofreier Wrangelkiez“).

Die zivilgesellschaftlich engagierten Akteurinnen und Akteure sollen in dem Prozess als Treiber der Mobilitätswende einbezogen werden. Auch die kommunale Politik zeigt sich gegenüber einer Umgestaltung des Stadtraums zugunsten des Rad- und Fußverkehrs offen und hat bereits eine Machbarkeitsuntersuchung in Auftrag gegeben (vgl. Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg 2019). Gemeinsam mit dem Bezirksamt und den für die Machbarkeitsuntersuchung beauftragten Planungsbüros soll in dem Forschungsvorhaben ein Planungsprozess zur Nahmobilitätsförderung gestaltet, durchgeführt und erforscht werden, der die unterschiedlichen Bedarfe der Menschen einbezieht, die Kreativität und das Engagement befördert und die politische Aushandlung von Konflikten und Widersprüchen begünstigt.

Ziel ist zunächst die Analyse der vorhandenen räumlichen, funktionalen und sozialen Strukturen im Untersuchungsgebiet sowie die Erfassung der allgemeinen und zielgruppenspezifischen Ansprüche an die verkehrliche und stadträumliche Umgestaltung, die anschließend direkt in die partizipative Konzeptrealisierung miteinfließen. Mit dem Fokus auf die Umsetzung von Maßnahmen soll ein Partizipations- und Evaluationskonzept entwickelt und erprobt werden. Zusätzlich zu der Erprobung des Partizipationskonzepts erfolgt eine tiefergehende Untersuchung zu bestehenden Konfliktfeldern bei der Mobilitätswende im Wrangelkiez, wobei ein Fokus auf die inklusive Gestaltung von Planung und Partizipation gelegt wird.

Das Bild zeig eine Gruppe Mensch, Erwachsene und Kinder, die auf einer Straße zusammenstehen und etwas besprechen. Die Straße ist bemalt und mit Sitzgelegenheiten versehen. Realbeteiligung Görlitzer Ufer: Vorstellung der Ergebnisse aus der Ideenwerkstatt
Realbeteiligung Görlitzer Ufer: Vorstellung der Ergebnisse aus der Ideenwerkstatt

Die gesammelten Forschungsergebnisse aus der Prozessgestaltung werden in Form eines Leitfadens für die partizipative Entwicklung und Umsetzung von Nahmobilitätskonzepten zusammengefasst und als Handlungsempfehlungen den kommunalen Verwaltungen in Deutschland zur Verfügung gestellt.

Projektdurchführung

Das Projekt wird aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans
(NRVP) 2020 vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) gefördert. Projektstart war November 2020. Die Bearbeitung erfolgt an der TU Berlin durch das Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung.

Die Entwicklung eines Maßnahmenkonzepts zur nahmobilitätsfreundlichen Umgestaltung des Wrangelkiez wird durch das Bezirksamt gemeinsam mit Planungsbüros entwickelt. Dabei wird u. a. eine repräsentative Befragung der Quartiersbevölkerung durchgeführt und verschiedene Beteiligungsverfahren zur Konsultation angeboten.

Das Forschungsprojekt liefert ergänzende qualitative Erhebungen mit unterrepräsentierten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen (Kinder, türkeistämmige Frauen) und führt eine umfassende Quartiersanalyse, unter Berücksichtigung sozialräumlicher Probleme sowie von Gerechtigkeitsaspekten hinsichtlich der Verteilung von Umweltbelastungen und der Aufteilung des öffentlichen Raums (Umwelt- und Flächengerechtigkeitsanalyse), durch.

Das Maßnahmenkonzept wird mit den gesammelten Erkenntnissen und Ansprüchen der Stakeholder vor Ort sowie den politischen und administrativen Anforderungen kontextualisiert und für die erste Umsetzungsphase konkretisiert. Zur partizipativen Umsetzung dieser Maßnahmen wird ein Partizipations- und Evaluationskonzept entwickelt und anhand einer realexperimentellen Maßnahme erprobt. Zusätzlich zu der Erprobung des Partizipationskonzepts anhand einer ersten Maßnahme erfolgt eine tiefergehende Untersuchung – u. a. durch Fokusgruppen mit Mobilitätswende-Kritikerinnen und -Kritikern und marginalisierten Bevölkerungsgruppen – zu bestehenden Konflikten bei der Umsetzung der Mobilitätswende, mit dem Fokus auf Beteiligungsbarrieren und deren Auflösung.

Foto mit einem Kind im Wrangelkiez, dessen Kopf hinter einer schnaufenden Emoji- Maske verborgen ist. Anwendung der Photovoice-Methode bei der Erhebung von Mobilitätsbedarfen bei Grundschulkindern im Wrangelkiez  Photovoice mit Grundschulkindern im Wrangelkiez
Anwendung der Photovoice-Methode bei der Erhebung von Mobilitätsbedarfen bei Grundschulkindern im Wrangelkiez

Das Forschungsvorhaben NahMob wurde am 31.7.2023 erfolgreich abgeschlossen. Die gesammelten Projekterkenntnisse wurden in einer auf Kommunalpolitik und Verwaltung zugeschnittenen Leitfadenbroschüre zur nahmobilitätsfreundlichen Umgestaltung von Kommunen zusammengeführt, wobei die Forschungsergebnisse zur Gestaltung des Planungs- und Partizipationsprozesses einfließen.

Durch die Kooperation mit dem BMBF-geförderten Projekt Mobilitätsberichterstattung (MobilBericht2) wurden die Erfahrungen und Ergebnisse beider Projekte gebündelt, bundesweit nutzbar gemacht und die Übertragbarkeit verbessert.

Konkret verdeutlicht der Leitfaden den kommunalen Planenden die bestehenden Möglichkeiten für eine nahmobilitätsorientierte Umgestaltung von Stadtquartieren. Durch den frei verfügbaren Leitfaden werden die Erkenntnisse zur effizienteren Prozessgestaltung und der damit einhergehenden kürzeren Entwicklungs- und Planungszeit für nahmobilitätsfreundliche Umgestaltungen zur Einsparung von Geld- und Personenmitteln in Kommunen und Planungsbüros führen.

Es besteht die Möglichkeit der Implementierung der Projektergebnisse in bestehende Regelwerke. Darüber hinaus leistet das Forschungsvorhaben einen direkten Beitrag zur Umsetzung von nahmobilitätsfördernden Maßnahmen vor Ort sowie einer sozial inklusiveren Beteiligung bei der Verkehrsplanung.

Das Wissen über Erfolgsfaktoren und Barrieren ebenso wie die Erfahrungen zur transdisziplinären und partizipativen Zusammenarbeit sind wesentliche Innovationen in der anwendungsorientierten Mobilitätsforschung. Durch die Veröffentlichung und wissenschaftliche Verbreitung in Fachzeitschriften und auf Tagungen wurden die Projektergebnisse einem größeren wissenschaftlichen Publikum zugänglich gemacht. Dieses Wissen kann zukünftig für Folgeprojekte wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Mehrwerte entfalten. Dabei bieten die erarbeiteten Handlungsempfehlungen in Bezug auf die Beteiligung der lokalen Bevölkerung durch eine realexperimentelle Maßnahmenumsetzung wichtige Ausgangspunkte für künftige Forschungs- und Praxisprojekte.

Warum handelt es sich um ein innovatives und nachahmenswertes Beispiel?

Durch den örtlich sehr besonderen Charakter hat dieses Projekt ein Alleinstellungsmerkmal: So existiert in Deutschland bis dato noch kein Projekt, das unter Mitarbeit von Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft innovative, partizipative Methoden zur erfolgreichen Umsetzung von nahmobilitätsfreundlichen Maßnahmen entwickelt und erforscht hat.

Die Grafik führt in vier Blöcken von integrierten Analyseinstrumenten über sozial inklusive Prozessgestaltung und kleinteilige sowie lernende Planung zur Ableitung von Handlungsempfehlungen zu Partizipation und Prozessgestaltung. Grafik zur Beteiligung der Akteurinnen und Akteure im Projekt "Nahmobilitätskonzept Wrangelkiez"
Beteiligung der Akteurinnen und Akteure im Projekt "Nahmobilitätskonzept Wrangelkiez"

Finanzierung

Finanzierung

Bundesmittel

Gesamtvolumen

352.759 Euro

Das Projekt wird vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans 2020 gefördert.

Evaluation

Ja. Während der gesamten Projektdurchführung wurden die Erkenntnisse zum Prozesserfolg der einzelnen Arbeitspakete in schriftlicher Form protokolliert. Diese stetige Selbstreflexion des Vorgehens sowie der Zusammenarbeit mit den Praxispartnern und der Bevölkerung wurde formell in den Zwischenberichten und abschließend im Projektschlussbericht dokumentiert. Ziel dieser Prozessevaluation ist es, konkrete Erkenntnisse zu den Treibern und Hemmnissen der eigenen Forschungsarbeit, der transdisziplinären Zusammenarbeit sowie den Partizipationsverfahren zu generieren.

Diese Prozessevaluation in Form des Abschlussberichts dient zukünftigen Forschungs- und Praxisprojekten, mögliche Risiken frühzeitig zu identifizieren und Chancen rechtzeitig nutzbar zu machen. Teile dieser Erkenntnisse werden ebenfalls im Leitfaden für die Kommunen aufgegriffen, um auch für die Praxis die gemachten Evaluationserkenntnisse nutzbar zu machen.

Projektträger & Beteiligte

Projektdurchführende Institutionen

Unternehmen, Universität, Verband, Verein, Private

Projektleitung

Prof. Dr.-Ing. Christine Ahrend, Fachgebietsleiterin

Technische Universität Berlin, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung

Laufzeit

Dauermaßnahme

Nein

Öffentlichkeitsarbeit & Dokumentation

Fachgebietsleiterin, Technische Universität Berlin

Prof. Dr.-Ing. Christine Ahrend, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung

Salzufer 17-19

10587 Berlin

030 - 314 – 25145 (Sekretariat), https://www.tu.berlin/ivp

Erscheinungsdatum: 1.10.2020

Autor: Johannes Roderer und Till Uppenkamp, Wissenschaftliche Mitarbeiter, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, Technische Universität Berlin, Fakultät Verkehrs- und Maschinensysteme, Institut für Land- und Seeverkehr