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Dr. Sven Lißner zur Digitalisierung im Radverkehr

Interview

Datum 16.2.2023

Im Interview gibt Dr.-Ing. Sven Lißner, Verkehrsforscher an der Technischen Universität Dresden, Einblicke in die Anwendungsmöglichkeiten von digitalen Daten im Radverkehr.

Dr. Lißner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Verkehrswissenschaften "Friedrich List" der TU Dresden, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, Lehrstuhl für Verkehrsökologie. Er zeichnet unter anderem für das Projekt MoveOn verantwortlich, in dessen Rahmen die Teilnehmerkommunen an der Kampagne "Stadtradeln" über das sogenannte RiDE-Portal kostenfreien Zugang zu den aufbereiteten Fahrraddaten erhalten, die mit der Smartphone-App der Kampagne gesammelt wurden.

Wir haben Herrn Lißner fünf Fragen zur Rolle von digitalen Daten im Radverkehr gestellt:

  1. Der NRVP 3.0 bestimmt das Aktionsfeld "Innovation & Digitalisierung" und geht davon aus, dass Daten die Sicherheit, Leistungsfähigkeit und den Komfort des Radverkehrs verbessern können. Welchen Stellenwert messen Sie der „Digitalisierung im Radverkehr“ bei?

    Ich denke, dass Digitalisierung dem Radverkehr auf vielen Ebenen helfen kann. Zum einen ganz konkret im Planungsprozess. Wir benötigen mehr Daten darüber, wo, wann und wie sich Radverkehr in den Städten und auf dem Land abspielt und wo eben noch nicht. Nur so können wir zielgerichtet und auch nachfrageorientiert planen bzw. Planungen priorisieren. Digitale Radverkehrsdaten helfen auch bei der Evaluation von Bauprojekten. So kann, eine gute Datenlage vorausgesetzt, einfacher der Erfolg einer konkreten Maßnahme nachgewiesen werden. Das erleichtert auch zukünftig die Argumentation in Abwägungsprozessen bspw. über die Aufteilung von knappem Verkehrsraum. Auch darüber hinaus können digitale Daten für mehr Komfort und Leistungsfähigkeit sorgen, bspw. in der Planung und Umsetzung von Lichtsignalsteuerungen im Sinne einer grünen Welle für den Radverkehr.

  2. Wie sieht in Ihrer Vorstellung eine digitale Radverkehrszukunft aus?

    In der digitalen Radverkehrszukunft gehen Planung und Bürgerbeteiligung Hand in Hand. Daten werden über Datenspenden bzw. Crowdsourcing-Ansätze gesammelt und mit Feedbackkanälen ergänzt. So können Radler*innen einen Beitrag zur Entwicklung von Maßnahmen, Konzepten, oder bspw. der Pflege von Radverkehrsanlagen leisten. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass in den Kommunen ausreichend gut ausgebildete Radverkehrsplaner*innen zur Verfügung stehen, um aus Daten Taten werden zu lassen. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre eine Fusion unterschiedlicher Datenquellen und Datensätze wünschenswert. So können wir den Nutzen digitaler Daten maximieren. In einem konkreten Bild in meiner Glaskugel radeln die Radfahrer*innen auf gut geplanten Vorrangrouten weitgehend frei von Wartezeiten, da auf Basis der durch die Radler*innen erhobenen Daten eine grüne Welle eingerichtet wurde.

  3. Sie koordinieren als Projektleiter des NRVP-Projektes MoveOn ein bundesweit nutzbares Planungstool. Haben Sie mit diesem Projekt die Segel bereits in Richtung dieser Zukunft gesetzt?

    Ich denke, das Segelschiff ist eine sehr passende Metapher. Im Vorgängerprojekt MOVEBIS haben wir die Methodik zur Datensammlung, Verarbeitung und Visualisierung erarbeitet, also quasi das Schiff vom Stapel gelassen, und nun setzen wir die Segel. Aktuell nutzen schon über 300 Kommunen unser Planungstool, und dank skalierbarer IT-Infrastruktur können noch viele weitere dazu kommen. In den kommenden Jahren werden wir das RiDE-Portal sukzessive weiterentwickeln und immer stärker den Bedürfnissen der Planer*innen und Kommunen anpassen. Grade auf dem Feld der kommunalen Nutzung lernen wir jeden Tag dazu. Das ist sozusagen der Wind in den Segeln.

  4. Die während der Stadtradeln-Kampagne geradelten Kilometer wurden von MoveOn erfasst. Am 1.12.2022 haben Sie die erfassten Daten den teilnehmenden Kommunen über die Softwareplattform „RiDE-Portal“ zur Verfügung gestellt. Was sind Ihre Beobachtungen? Legen die Kommunen diese Daten schon ihren aktuellen Planungen zugrunde? Sind Ihnen bereits kommunale Praxisbeispiele bekannt geworden?

    Kommunen und auch Planungsbüros nutzen die Daten in der Tat schon zur Konzepterstellung, aber auch zur Maßnahmenevaluation. Auch für den Aufbau und die Kalibrierung von Verkehrsmodellen bzw. Teilmodellen für den Radverkehr werden die Daten verwendet. Praxisbeispiele sind uns aus Städten wie Münster, Leipzig, München, Offenburg oder Landkreisen wie Lüchow-Danneberg oder Recklinghausen bekannt.

  5. Bewegungsdaten benötigen in der Regel personenbeziehbare Daten, um geeignete Bewegungsprofile zu erstellen. Wie können solche Konflikte aufgelöst werden?

    Die Personenbeziehbarkeit von den von uns genutzten Bewegungsdaten entsteht im Wesentlichen durch Bewegungsmuster, beispielsweise durch bestimmte Quellen und Ziele von Ortsveränderungen. Für die Planung aggregieren wir die Daten so stark wie möglich, um die Identifikation von Einzelpersonen zu erschweren. Darüber hinaus schneiden wir zu Beginn und Ende einer jeden Fahrt noch eine zufällige Strecke, jedoch mindestens 100 Meter ab. Dies erschwert Rückschlüsse auf Personen zusätzlich. Darüber hinaus nehmen wir den Datenschutz natürlich auch bei der Speicherung oder Datenweitergabe sehr ernst. Unsere Cloud-Provider haben ihre Rechenzentren alle in Deutschland, und wir geben grundsätzlich keine Rohdaten heraus. Wir können die Herausforderungen also nicht vollständig auflösen, uns ihr aber sehr bewusst widmen und den Radler*innen gegenüber die größtmögliche Transparenz bezüglich der Datenverarbeitung und -Nutzung walten lassen.

Herr Dr. Lißner, vielen Dank für das Interview!