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"Mit einem Fahrrad lässt sich Großes erreichen"

Interview mit EuroVelo-Chefin Agathe Daudibon

Datum 8.5.2023

EuroVelo ist eine europäische Erfolgsgeschichte: Das wachsende Netzwerk verbindet die vielen europäischen Länder mit derzeit 17 Radfernwegen. Die Leiterin des EuroVelo-Teams beim Europäischen Radfahrverband in Brüssel ist Agathe Daudibon. Im Interview spricht sie über Ziele, Radtourismus-Trends und die politische Dimension einer 10.000 km langen EuroVelo-Radreise.

Dieser Text ist eine Übersetzung der englischsprachigen Originalfassung.

Frau Daudibon, Sie sind seit August 2022 Leiterin der EuroVelo-Initiative beim Europäischen Radfahrverband (ECF). Welche Ziele verfolgen Sie bei der Entwicklung des EuroVelo-Netzwerks in den kommenden fünf Jahren?

EuroVelo hatte bereits im Jahr 2020 eine klare Strategie bis 2030 verabschiedet. Meine Aufgabe besteht also im Wesentlichen darin, diese Ambitionen und Ziele zusammen mit allen beteiligten Parteien umzusetzen. Unsere Priorität ist es, die Qualität von EuroVelo als Radroutennetz zu verbessern und als Inspiration für alle Länder zu dienen, nationale und regionale Radroutennetze zu entwickeln. Diese sollten auf den EuroVelo-Routen basieren, aber in der Fläche dichter sein.

Verbesserte Qualität bedeutet: gute Radinfrastruktur und Verbindungen zwischen den verschiedenen Ländern, zertifizierte Dienstleistungen für Radfahrende, die auf nationaler Ebene verwaltet werden, wie z. B. "Bett & Bike", angepasste multimodale Optionen, insbesondere für die Verbindung von Fahrrad und Bahn, starke Kommunikation zur Unterstützung von EuroVelo als Marke und einfacher Zugang zu Informationen für die Nutzer*innen.

Für all dies benötigen wir mehr Daten über die Routennutzung, aber auch Evaluationsdaten für die EuroVelo-Routen selbst. Schließlich müssen wir die Leitung und Koordination von EuroVelo zusammen mit unseren nationalen Partner*innen weiter stärken, aber auch strategische Partnerschaften mit führenden globalen Organisationen und privaten Unternehmen eingehen, um angemessene finanzielle Mittel für EuroVelo sicherzustellen.

Weiterführende Informationen: EuroVelo-Strategie 2030 (Auszug)

Blau markierte Fahrradroute an der Küste bei sonnigem Wetter und blauem Himmel. Der Radweg ist rechts gesäumt von Palmen, dem Strand und dem Mittelmeer. EuroVelo 8 - Mittelmeer-Route in Almería, Spanien
Radfernweg EuroVelo 8 - Mittelmeer-Route mit Beschilderung in Almería, Spanien

Welche Vorteile bringt eine EuroVelo-Route einem EU-Land und den Regionen und Gemeinden, durch die die Route führt?

EuroVelo steht symbolisch dafür, wie wichtig Radwegenetze und -planung sind. EuroVelo hilft bei der Festlegung von Prioritäten für die Radverkehrsinfrastruktur in einem bestimmten geografischen Gebiet. Es zeigt aber auch, wie ein Radwegenetz den Bedürfnissen der Nutzer*innen gerecht werden kann, indem es umfassende Leitlinien und einen Anforderungskatalog bereitstellt. Wir betrachten EuroVelo als Rückgrat anderer Radroutennetze. EuroVelo ist zudem perfekt geeignet, um die Bedeutung transnationaler Maßnahmen für den Radverkehr zu verdeutlichen.

Eine Radreise auf einer 10.000 km langen Radroute wie EuroVelo 13 - Iron Curtain Trail ist ein Traum und eine verrückte Idee. Dies zeigt, dass sich mit einem Fahrrad auf nachhaltige Weise Großes erreichen lässt. Aber die Mehrheit der EuroVelo-Nutzer*innen wohnt in der Nähe einer Route und fährt darauf mit dem Rad zur Arbeit oder nutzt sie in der Freizeit, einfach weil das bequem ist und Spaß macht. Frankreich ist ein gutes Beispiel dafür, denn die EuroVelo-Routen dort sind besser entwickelt (95 Prozent im Jahr 2022) als die nationalen Radwege, was die Dynamik vorantreibt.

(Anmerkung der Redaktion: Wenn eine EuroVelo-Route oder ein dazugehöriger Abschnitt über eine Beschilderung nach dem jeweiligen nationalen Standard sowie über eine Website mit Informationen für die Nutzer*innen verfügt, kann sie als entwickelte EuroVelo-Route bezeichnet werden. Siehe Kategorien von EuroVelo-Routen.)

Welche Trends werden die Zukunft von EuroVelo und des Radtourismus prägen?

Die Dynamik im Radtourismus ist sehr stark, und alle Indikatoren zeigen nach oben. So ist zum Beispiel die Zahl der Radfahrenden auf EuroVelo-Routen zwischen 2019 und 2022 um elf Prozent gestiegen. Leider fehlen uns aktuelle Daten auf europäischer Ebene, um die Dynamik vollständig einschätzen zu können. Wir wissen nur, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen des Radtourismus in der EU im Jahr 2012 auf 44 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt wurden.

Was die Trends betrifft, so sind viele interessante Entwicklungen im Gange. Das EuroVelo-Management-Team hat drei Haupttrends identifiziert, die es zu verfolgen gilt: Slow Tourism, Multimodalität und E-Bikes.

Der langsame Tourismus weckt immer mehr Interesse, da er einige wichtige Wünsche der heutigen Nutzer*innen erfüllt und zusammenführt, wie Nachhaltigkeit, Rückkehr zur Natur und das Bedürfnis, von der Routine abzuschalten. Der Radtourismus ist die perfekte Antwort auf diese Bedürfnisse und eignet sich hervorragend, um andere Dimensionen wie Gastronomie und Kultur zu integrieren und um weitere Aktivitäten zu ergänzen, wie zum Beispiel Schwimmengehen.

Der zweite Trend ist die Multimodalität: Radtourist*innen ziehen es vor, ihr Reiseziel mit einem nachhaltigen Verkehrsmittel oder mit ihrem Fahrrad zu erreichen. Also müssen sie mit ihren Rädern leichten Zugang zu Zügen haben. Es sollten auch Alternativen wie Fahrradverleih, Abstellmöglichkeiten usw. zur Verfügung stehen.

Der dritte Trend sind E-Bikes, mit denen der Radtourismus auch diejenigen erreichen kann, die ihn sonst aus Angst oder aufgrund ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit nicht in Betracht ziehen würden. E-Bikes haben zahlreiche Vorteile. So erleichtern sie beispielsweise Steigungen und den Zugang zu schwierigeren Regionen. Sie ermöglichen es Gruppen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, mit Zuversicht gemeinsam zu radeln, einige mit E-Bikes und andere mit normalen Fahrrädern. Allerdings bringen E-Bikes auch besondere Herausforderungen mit sich: Sie sind schwerer, was sich auf die Multimodalität auswirkt; sie sind teurer und erfordern sichere Abstellmöglichkeiten; und es besteht die Notwendigkeit, den Akku jeden Tag aufzuladen, möglicherweise in der Unterkunft oder durch andere Dienstleister.

Das Europäische Parlament hat kürzlich in einer Resolution die Entwicklung einer europäischen Radverkehrsstrategie gefordert. Was bedeutet das für EuroVelo und den Radtourismus?

In der Tat hat das Europäische Parlament eine historische Resolution verabschiedet. Darin fordert es die Europäische Kommission auf, eine europäische Radverkehrsstrategie zu entwickeln, um die Zahl der in Europa mit dem Fahrrad zurückgelegten Kilometer bis 2030 zu verdoppeln. Der ECF hat zusammen mit seinen Partnerorganisationen diese Resolution und die Anerkennung des Fahrrads als vollwertiger Verkehrsträger aktiv unterstützt.

Die Resolution erwähnt ausdrücklich EuroVelo und die Notwendigkeit, dessen Entwicklung zu beschleunigen. EuroVelo und der Fahrradtourismus bieten natürlich eine große Chance, um das Ziel zu erreichen, die mit dem Fahrrad zurückgelegten Kilometer in Europa zu verdoppeln. EuroVelo könnte von der Anerkennung und Unterstützung durch eine EU-Radverkehrsstrategie in mehrfacher Hinsicht stark profitieren. Ein wichtiger Schritt nach vorne wäre die Verbesserung der Leitlinien für ein Transeuropäisches Verkehrsnetz (TEN-V) durch die Integration von EuroVelo und die systematische Einbeziehung von Fuß- und Radverkehrsinfrastruktur in alle TEN-V-Projekte und -Netzentwicklungen. Anfang März hat die Europäische Kommission zugesagt, bis zum Sommer 2023 eine Europäische Erklärung zum Radverkehr vorzulegen - eine Initiative zur Förderung des Radverkehrs in Europa.

Weiterführende Informationen: Resolution on a EU Cycling Strategy: What benefits for EuroVelo?

Zwei Radfahrer*innen sitzen auf einer niedrigen Mauer und beobachten einen Hafen und die Schiffe an einem sonnigen Tag. Ein Schild auf der rechten Seite zeigt das Logo von EuroVelo 3. EuroVelo 3 - Pilgerroute, Verlängerung nach Fisterra
EuroVelo 3 - Pilgerroute, Verlängerung von Santiago de Compostela nach Fisterra, Spanien

Wo sehen Sie Prioritäten für EuroVelo in Deutschland?

Es gibt zwei Hauptaspekte, um EuroVelo in Deutschland weiter zu entwickeln: das deutsche Radroutennetz und Deutschland als Radtourismusziel.

Auf dem D-Routen-Netz wäre es wichtig, EuroVelo als Teil des nationalen Radwegenetzes besser zu integrieren. EuroVelo ist bereits in der deutschen nationalen Radverkehrsstrategie genannt, und das Ziel ist es, die EuroVelo-Beschilderung in den nächsten Jahren zu verbessern. Dies ist also ein guter Zeitpunkt, um EuroVelo auch vollständig in das D-Routen-Netz zu integrieren. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die deutschen Akteur*innen weitere Investitionen für die Instandhaltung älterer Radverkehrsinfrastrukturen planen.

Wenn wir über Radreiseziele sprechen, betrachten wir Deutschland üblicherweise als das erste Ziel für Radtourismus in der Welt. Doch die Konkurrenz wächst: Frankreich möchte jetzt den Spitzenplatz erobern und bereitet eine nationale Strategie für den Radtourismus mit erheblichen Investitionen vor. Für Deutschland könnte es eine Priorität sein, das Marketing und die Kommunikation auf nationaler Ebene zu verbessern, um an der Spitze zu bleiben. Ich denke, Deutschland hat ein sehr starkes und hochwertiges Angebot an Routen und Regionen. Vielleicht fehlt ein allgemeiner Überblick über das radtouristische Angebot in Deutschland, insbesondere in englischer Sprache. Eine Plattform, die alle relevanten Informationen aus verschiedenen Quellen sammelt und vielleicht zu spezifischeren Detailinformationen verlinkt, könnte für die Nutzer*innen sehr hilfreich sein. Darüber hinaus könnten gemeinsame Marketing- und Kommunikationskampagnen einen Mehrwert bieten. Natürlich würden wir uns auch freuen, wenn die deutschen Partner*innen die EuroVelo-Routen in ihren geografischen Gebieten stärker bewerben würden, da wir glauben, dass dies eine große Chance für deren Sichtbarkeit wäre!

Über EuroVelo

EuroVelo ist das europäische Radroutennetz - ein Netzwerk von 17 Radfernwegen, die den gesamten Kontinent durchqueren und verbinden. Das Netz wird vom Europäischen Radfahrverband (European Cyclists' Federation, ECF) in Zusammenarbeit mit nationalen und regionalen Partnerorganisationen entwickelt und koordiniert. Die Routen stehen sowohl Radtourist*innen als auch der lokalen Bevölkerung zur Verfügung. Das EuroVelo-Radrouten-Netzwerk umfasst mehr als 90.000 km in 38 Ländern. Bis zu 64 Prozent dieses Netzes sind bereits gut mit dem Rad befahrbar, wobei 50.000 km des Netzwerks aus Radwegen und verkehrsarmen Straßen bestehen. Die EuroVelo-Strategie 2030 zielt darauf ab, das Netz bis 2030 zu vervollständigen. Es soll das Rückgrat anderer Radroutennetze bilden und so mehr und besseres Radfahren in ganz Europa befördern. Weitere Informationen über EuroVelo finden Sie unter www.eurovelo.com.

Über Agathe Daudibon

Agathe Daudibon ist seit August 2022 die leitende EuroVelo-Managerin beim ECF und für die Strategie- und Interessenvertretungsaktivitäten von EuroVelo verantwortlich. Zuvor war sie zehn Jahre in Frankreich im Radverkehr- und Radtourismus-Projektmanagement tätig. Von 2016 bis 2021 war sie bei der französischen Organisation "Vélo & Territoires" hauptsächlich für Radreiseprojekte, einschließlich nationaler EuroVelo-Routen, und Radtourismusthemen verantwortlich. Anschließend arbeitete sie bei Cerema - einem französischen staatlichen Kompetenzzentrum - am Programm AVELO 2, das darauf abzielt, die Radverkehrspolitik in ländlichen und überörtlichen Gebieten zu unterstützen. Sie lebt in Brüssel, verbringt aber viel Zeit mit Reisen in Europa.